Texte über Kunst

Malerei nach Jackson Pollock (2019)

Geschichtete KALLIGRAPHIE, durch die ein universeller Raum entsteht, in den aber die menschliche Figur eingeschrieben ist, so wie sie dies auch in chinesischen und japanischen Schriftzeichen fragmentarisch und additiv eingeschrieben ist.

Die Frage nach der Freiheit in der Kunst stellt sich jetzt anders als Ende der 50er Jahre, als Pollock starb und ich geboren wurde. Pollocks Befreiung lag in einer, sagen wir, kalligraphischen all-over-Behandlung der Leinwände. Das sah der Kunstmarkt so und deklarierte ihn als ausgebrannt, als er wieder zur Figürlichkeit zurückkehrte (von der er sich nie verabschiedet hatte). Er sagte generell, dass aus dem unterbewussten Vorgang immer zwangsläufig die Figur auftaucht (siehe Brice Mardens Entrüstung und Richtigstellung dieses Sachverhalts in „Cold Mountain“).

Spekulative Spiritualität und willkürliche Abstraktion verhindert also nicht das erneute Hereinschwemmen der Figuration. Wir sind eben zwangsläufig beschäftigt mit der menschlichen Lebensform und seiner Absurdität. Die Gefährdung der freien Kunst liegt heute fundamentaler in der ungehindert eingeführten Schere im Kopf, die immer radikaler lebenswichtige Phantasie und die ungefilterte Verfertigung der Gedanken beim Denken und beim Reden beschneidet. Die freiwillige Selbstzensur, die weder freiwillig ist, noch von selbst kommt, wird erweckt von der planmäßig sich verstetigenden Verschiebung der moralischen Grenzen in unserem Denken. Daran liegt dieses Kopf-in-den Sand-Stecken und Totschweigen unter dem ich massiv zu leiden habe. Wer mit dem Strom schwimmt, macht keine Probleme, da weder eigene Wahrnehmung, noch verarbeitendes Denken Zeit verbraucht. Die kann man zur vollständigen Indoktrination durch die zeitgenössischen Kommunikationsmedien nutzen. So bleibt man stromlinienförmig und einzig auf die lancierten Trends fixiert.

Deshalb kann eine Malerei, die sich thematisch an der konkreten Ikonographie der politischen Berichterstattung orientiert (Linie: Goya – Gericault - Manet – Kille) nur solch abruptes Abwenden hervorrufen, falls man sich aus Versehen einmal spontan hingewendet hätte. Ein Verstolpern, ein Verunfallen wäre das, dem man in jedem Fall vorbeugen muss, würde man einer solch monströsen Ausbeulung in der Kunstlandschaft Beachtung schenken. Denn wer wünscht sich schon, in den Nesseln zu sitzen, indem er sich mit der „fluktuativen“ politischen Realität konfrontiert und diese dann noch als Kunstgegenstand anerkennt, adelt und etablierte? Da will dann plötzlich alle Kunst Ewigkeit und sich nicht auf unsichere Prognosen stützen, obwohl sie doch zu einer saisonal wandelbaren Mode geworden ist, getarnt durch die Behauptung der Vielfalt. Aber vielfältig sind nur die Formen der Oberflächlichkeit und des Kitsches, der momentan angeboten wird.

Das Entscheidende ist immer die Farbe. Bei den Alten wie bei den Modernen: die durchgearbeitete Farbe. Pollock als Zäsur, in der das Experiment einen weiteren radikalen Höhepunkt und ein vordergründiges Ende in der Anknüpfung an die Figur, das fundamentale Interesse am Menschen in der Zeit, findet. Aber natürlich hat weder das Experiment noch die Figuration je ein wirkliches Ende gefunden. Und natürlich hat alle Neuheit immer im Alten gewurzelt. Die Revolutionen der Moderne beinhalten ja wie alle Revolutionen die Bilderstürmerei, das Über-Bord-Werfen von vermeintlich Störendem, Behinderndem, Abkömmlichkeiten eines „verdorbenen“ Geists. Neues ist bekanntlich von Revolutionsnachäffungen nicht zu erwarten, da die Revolutionäre durch den Bildersturm Platz schafften für ihre eigenen Konzepte und Formen, also ihr Ausdrucksvokabular, ihre Sprachwerkzeuge schon bekannt sind und deren Nachahmung kein Risiko mehr birgt. Dass das nicht jedermanns Logik ist, beweist die Gemischtwarenhandlung des Kunstmarkts und der Messen. Folgt man aber dieser Logik, die die meine ist, dass es nichts Neues unter der Sonne gibt, kommt man zum Schluss, dass nur die Auseinandersetzung mit dem Vergangenen das Zukünftige (und Gegenwärtige) hervorbringen kann. As it ever was (Talking Heads). Der Zeitgeist einer Epoche tritt dann klarer hervor, wenn die erfolgsverwöhnten Modekünstler abgetreten sind – und plötzlich die hervortreten, deren Bedeutung nicht zeitgebunden ist, weil sie das Vergangene, Gegenwärtige, Zukünftige zu vereinen wussten, somit aus der Zeit heraustreten und Gültiges über die Epochen hinaus zu sagen haben (Marcel Proust!). Nichts ist wie es zu sein scheint. Und so kann das zeitlich gebundene Tagesgeschehen durch die Malerei zur Parabel, zum Sinnbild werden – über die historischen Begebenheiten hinaus.

Man muss Bilder malen, die ein Rätsel sind. Obwohl alles offen liegt, weiß man nicht, wie sie gemacht sind. Es ist letztlich nicht die Technik, sondern die verdichtete Atmosphäre, die das Bild geheimnisvoll macht. Das Bild ist in jedem Fall und aus jeder Epoche retrospektiv, da es ein Anliegen der vergangenen Erfahrung thematisiert und einen Hintergrund liefert, der erst bearbeitet, übersetzt werden muss. Dabei macht es keinen wesentlichen Unterschied, ob dieser Hintergrund weit in der Vergangenheit liegt, oder nah an aktuellen Begebenheiten orientiert ist; etwa für den Klassizismus die Antike, für die Romantik das Mittelalter, oder aber für Max Beckmann 1909 „Das Erdbeben von Messina“, aller Beweggrund liegt nach der Fertigstellung des Bildes in der Vergangenheit. Nicht einmal die rasante technische Entwicklung, die innerhalb der neuen Medien künstlerische Kreativität einfordert, nicht einmal die angesagte „Lichtkunst“, die ja mit „Lichtgeschwindigkeit“ arbeitet, kann dieser Tatsache entfliehen.

Gäbe es nicht das Ungenügen an der Sagbarkeit, der das Wort nicht ausreicht, das Ungenügen an der Abbildung, weil die Darstellung der äußerlichen Hülle der Erscheinungen nicht ausreicht, das Ungenügen an der Vergänglichkeit von Schmerz, Glück, Hoffnung, Emotion, die einem noch schneller verklingenden, verlöschenden Medium wie der Musik immer neu Auftrieb gibt, gäbe es bloß eine platte, keine Rätsel aufgebende Realität ohne zeitliche und räumliche Dimension und ihrem Widerhall in der menschlichen Erfahrung, wäre auch jede künstlerische Äußerung ohne Notwendigkeit. Deshalb kann es in der Kunst nicht um ein Wettrennen mit der Zeit gehen. Vielleicht zeichnet deshalb die Suche nach dem Elementaren den Künstler aus, der ja weiß, dass er sich diesem Elementaren höchstens annähern, es nie vollständig erreichen kann – und vielleicht auch nicht erreichen will, um seine Schaffenskraft nicht zu demotivieren.

Jackson Pollock hat in seinen Anfängen nicht nur um ein zeitgenössisches Menschenbild in der Nachfolge von Picasso und den Surrealisten gerungen, sondern auch versucht, dieses mit den Schöpfungsmythen indianischer Totems und deren Jahrtausende alten Ahnenkult zu verbinden.

Auch er wollte Alt und Neu einen; und trotz aller Neuerungen wollten dies auch Picasso und die Surrealisten; sie wollten einen ursprünglichen, elementaren Zugang zur Kreativität ohne die Vorstellung von Bewusstseinsprägungen und den Zwangsregeln herkömmlicher Traditionsvorgaben. Warum sollte die Höhlenmalerei und Steinzeitkunst ein evolutionärer Rückschritt angesichts der Deckenfresken Tiepolos bedeuten oder der eurozentrische Fortschrittsglaube die Kulturleistungen nicht industrialisierter Völker schmälern? Was wichtig ist, sollte weder die nationalistische Staatsherrschaft noch der globale Markt autokratisch diktieren, sondern die Geisteswissenschaft und die Kunst sollten unendliche Freiräume errichten, in der der unabhängige Gedanke die Kommunikation prägt. Ein Zustand, der immer erneut epochenübergreifend herbeigesehnt werden kann – von dem wir allerdings momentan so weit entrückt sind, dass von einer solchen Sehnsucht nicht mehr gewusst wird, die nicht mehr verlautet werden darf, sie soll vergessen werden, um die Multiplikationsforen des Hasses nicht zu stören.

© Harald Kille 2019