Immanuel Kant: „Was die Dinge an sich sein mögen, weiß ich nicht, und brauche es nicht zu wissen, weil mir doch niemals ein Ding anders, als in der Erscheinung vorkommen kann“.
André Gide: „Ich verändere die Fakten in der Weise, dass sie der Wahrheit näherkommen als die Realität“.
James Joyce: „Es gibt keine Vergangenheit, keine Zukunft, alles verläuft in einer ewigen Gegenwart.“
Das Motiv (in der Malerei und in mir)
Die Landschaft emanzipierte sich vom Hintergrund religiöser Themen zum atmosphärischen Raum; Das Stillleben von historisch bedeutsam bewerteten Stoffen zu feinmalerischer Aufwertung des Alltäglichen; das Sujet der arbeitenden Bevölkerung (Millet, Kollwitz) von dem des hochstehenden Adligen oder des aufgestiegenen Bürgertums. Das Portrait repräsentativer Persönlichkeiten (Kaiser, Könige, Päpste etc.) endet in der Frage, ob die Herkunft über die Wichtigkeit einer Person entscheidet.
Warum sollte das massenmediale Tageszeitungs- und Fernsehnachrichtenbild nicht malereiwürdig sein? Es ist ja letztlich das politische Brot aller, auch wenn die Zusammenstellung der Backzutaten undurchsichtig ist, sprich, die Hintergründe des (kurzzeitig) Sichtbaren unsichtbar bleiben. Alles Sichtbare verweist also auf ein Dahinter, sowie es die Ikone der Orthodoxie tut, die eine Schnittfläche darstellt zwischen dem Abbildhaften und seinem dahinterliegenden (geistlichen) Sinn. Auch wenn das Dahinter nur aus einer Frage besteht, so ist sie doch die Frage, die unserer Existenz zugrunde liegt, die Frage nach dem Sein. Das Bilderverbot wurde hier zwar umgangen, aber das Misstrauen gegen das Bild oder gegen den Anschein des Sichtbaren ist als Erfahrung manifest. Die Suche nach einer wesenhaften, profunden Wahrheit, die hinter dem Samsara, dem Trug der sichtbaren Realität und ihren begierdehaften Verstrickungen steht, hat so die Schleier der Ich-Vorstellung der leidenden Existenz zerrissen. Sie sucht den unendlichen Kreislauf der Wiedergeburten zu zerbrechen und lässt das Meer des Geistigen erahnen, dem alles zugehört und in das alles einmündet.
Die Kunst scheint sich vom vermeintlich Erhabenen immer mehr profanisiert zu haben, um sich schließlich von allem zu befreien, wer oder was diese Erhabenheiten verlangt oder gefordert hat.
Das Sichtbare muss, auch wenn es keine direkte Wahrheit offenbart, eine Bedeutung haben. Und dieser Bedeutung oder diesen Bedeutungen gilt es nachzuspüren. Der Gipfel der Abstraktion: denn sowohl Raum als auch Zeit bestimmen die Form der Erscheinungen, die sowohl von Gegenwart als auch Vergangenheit, also von historischen Bedingungen als auch von örtlichen, also von klimatischen und geografischen Begebenheiten, abhängen. Wir sind Erscheinungen – und als solche fragen wir nach dem Sinn der Erscheinungen.
Auch wenn die religiösen und ideologischen Weltgebäude erodiert sind, suchen wir im Sichtbaren Anhaltspunkte einer feststehenden Gewissheit – so wie in der Mode des „Geschichtenerzählens“ nach einem mehr oder weniger „sinnvollen“, halbwegs plausiblen, wenn nicht folgerichtigen Ablauf von Geschehnissen gesucht wird. Nichts ist aber weniger wahrscheinlich in der Wirklichkeit als eine feststehende Gewissheit oder einen folgerichtigen Ablauf von Geschehnissen zu finden. Denn beides hängt von unseren Erwartungen und Bedürfnissen ab, die wenig bis gar keinen Einfluss auf die Gestaltung der äußeren Wirklichkeit haben. Die Erscheinung erscheint – sie wird nicht erdacht, auch wenn noch so viel Mühe darauf verwendet wird. Natürlich versuchen polare Machtkonstellationen und Gesinnungsgruppierungen das Weltgeschehen zu bestimmen oder wenigstens massiv zu beeinflussen. Was weniger in individueller Gedanken – oder Handlungsausübung, sondern in kollektiver Gewaltanwendung endet. Die Wirklichkeit wird also immer direkt oder indirekt von Gewalt beherrscht und geschaffen.
Sie wird aber auch von Empathie geschaffen und geprägt. Schön, könnte man sagen, dass Gewalt und Hass endlich, Empathie aber unzerstörbar und unendlich sei, denn in ihr entspringe und ende alles Sein. Menschen, die sich in die mystischen Dimensionen der Religion vertiefen, glauben an Letzteres oder erkennen gar den Urgrund des Seienden in der (göttlichen) Liebe. So wie es in sämtlichen Religionen aller Zeiten und Regionen, überlagert von neuen Religionen in neuen Zeiten und Orten, übernommen und postuliert worden ist. Diese Erkenntnis ist den meisten Zeitgenossen weder verfüg- noch vermittelbar. Sie halten das Haben als sicherer als das Sein. Trotz oder wegen aller Beliebigkeit, allem Zufälligen, allem Schicksalhaften möchte man zu etwas Wesentlichem gelangen. Mindestens wenn man nicht nur das Streben nach Besitz und Reichtum als wesentlich betrachtet.
Wesentlich: afrikanische Plastik leitet sich nicht nur von animistischen Vorstellungen ab, sondern verdankt sich vor allem aus der Beobachtung hervorstechender Elemente menschlicher und tierischer Physiognomie. Womit wir wieder beim Sichtbaren wären: jede Abstraktion, auch jegliche Phantasie, kommt aus der Sichtbarkeit – sogar jede Vorstellung vom Unsichtbaren.
Wie spürt man dem Sichtbaren nach? Welcher Ästhetik kann man folgen? Nicht einer, die nur abbildet, die nur beschönigt, die nur das Äußere imitiert. Durch Nachahmung werden Verhaltensweisen erlernt. Die meisten kommen aber lebenslang nicht über die Imitation hinaus. Die Kunst muss über sie hinausgehen. Wenn sie gut ist, wird sie nicht nur um ihre Form und ihren Inhalt, sondern auch um Verständnis ringen müssen, denn die gängigen, das heißt, etablierten Formen muss sie überwinden. Das nun Entstehende lässt sich nicht wie ein offenes Buch, das eine Gebrauchsanweisung kundtut, betrachten, sondern muss sich sowohl als Befragung im Prozess als auch als Befragung des Ergebnisses verstehen. Das zu betrachtende Ergebnis ist also kein abgeschlossenes Postulat, das den Rezipienten schon bekannt ist. Es wird ihm Unbekanntes, Staunenswertes, Unbeantwortbares offenbaren.
Die Befragung von Bildwürdigkeit (kunsthistorisch), des Bildes an sich (Bilderverbot, Misstrauen gegen das Bild), die Frage, was ist ein Bild und was bewirkt es, stellt sich der Sammler selten. Er umgibt sich meist mit hübscher, aber großspuriger Ästhetik, mit Accessoires der eigenen Reputation. Er geriert sich als Metier-Spezialist, obwohl er größtenteils nur seine Eitelkeit illustriert.
Die Autonomie des Bildes, seine Emanzipation von der Sklaverei des als bildwürdig Erachteten, erklärt von den Repräsentationsgelüsten der Mächtigen, könnte aber auch aus dem Bedürfnis entsprungen sein, sich von dem Klischee des Abbildhaften zu befreien, vielleicht sogar aus dem Bilderverbot selbst, das das Abbild als Lästerung der göttlichen Schöpfung betrachtet hat. Die Vorstellung, dass eine höhere, reinere, schlichtere Wahrheit nicht durch illusionistische Darstellung erreicht werden kann, brachte die Kunstentwicklung zu gewagteren Lösungen, indem sich das Individuum vom Druck der Unfehlbarkeit befreite. Die Hybris einem göttlichen Plan zu entsprechen oder zu folgen, ihn gar zu übertreffen, wurde dann durch das mechanisch erstellte Bild der Fotografie endgültig überflüssig. Gewagt ist, das Bild aus seinen eigenen Bedingungen, aus seinen eigenen Notwendigkeiten, aus seiner eigenen Materialität heraus zu schaffen. So wird der Künstler wieder zum Handwerker, zum Arbeiter, aber ohne den Anforderungen einer Zunft genügen zu müssen.
Das Motiv mag so zweitrangig geworden sein - wenn auch nicht beliebig. Die Bildüberflutung führt einerseits zur Belanglosigkeit, andererseits zur Instrumentalisierung des Bildes. Es gibt kein autonomes Bild in der medialen Berichterstattung. Die Medien sagen: wir produzieren Gefühle, wir produzieren Trends, wir produzieren Polarisierungen, wir produzieren Massengefolgschaften, wir produzieren Gegensätze und Feindschaften. Wir produzieren nicht: Individualität, Komplexität, Klischeevermeidung, Reflektion, Entwicklung durch Einsicht.
Die Kunst erwidere: in Zeiten großer manipulierter Polarisierung sind nicht nur die Gräben zwischen den Lagern unüberwindbar. Durch die Gleichschaltung in den Lagern werden sie zu Unorten ohne Wahrhaftigkeitsanbindung, ohne Ehrbarkeit. Kunst als Instrument der Blasenbildung, der sentimentalen Verramschung, der inhaltlichen Entschärfung, der substantiellen Entkernung, der kulturellen Verharmlosung, der ästhetischen Verflachung: sage nein! (Konstantin Wecker).
Deshalb trotz Medien und neuer Medien weiterhin Malerei. Da gibt es offenbar keine einfachen Lösungen, bezieht man die Sichtbarkeit mit ein. Man hat so mit dem Gegenstand und der Abstraktion zu kämpfen. Sämtliche Parameter schlagen aufeinander. Farbe, Form, Fläche, Raum (und Licht, was eigentlich dasselbe ist); Motiv, Thema (was nicht dasselbe ist). Was ist zentrale Aussage (zunächst unbekannt) bei gleichzeitiger Botschaftslosigkeit (die Einzige, die nicht instrumentalisierbar ist)? Aus alldem besteht der Prozess und auch das Bildresultat. Totales Chaos, d.h., totale Bindungslosigkeit der Dinge zueinander bis hin zu einer Lösung, zu einer Ordnung, einer Art Harmonie, die nicht vorausbedacht werden kann, sondern durch den (lange aussichtslosen) Kampf mit allen Dingen doch überraschend erlangt wird – so entsteht das Bild. Plötzlich ergibt alles einen Sinn, aber nur durch die handgreifliche und fortwährende Befragung des Gegenstands.
Was ist Anschauung, was Erfindung? Man schaut wieder und wieder (erforscht die unzulängliche Vorlage), bis man erfinden kann. Ähnlich einem ostasiatischen Kalligraphie-Meister, der eine Kiefer malt. Was dauert länger, das Schauen oder das Malen?
Das Bild ist da, wenn man anfängt, es zu lieben wie ein Kind, natürlich unabhängig davon, wie unbequem es ist. Das Kind (wie das Bild) wird zwar motiviert gezeugt, gewinnt aber seine eigentliche Gestalt erst nach seiner Geburt. Vorlage und Motiv sind nicht identisch mit dem Ergebnis, das eine genauere, aber auch weitere Aussage beinhaltet als Planung je hätte voraussehen können. Diese Aussage ist keine offensichtliche. Sie äußert sich nach ausdauernder Betrachtung. Sie verändert sich wie der Betrachter selbst sich verändert. Und weil die Aussage zwar konkret, aber wandelbar ist, immer neue prismatische Facetten gewinnt, ist sie keine Botschaft.
Denn um der Gefahr der (einfachen) Botschaft, gar der Propaganda, zu entgehen, begibt man sich auf eine andere Ebene, der Ebene der poetischen Kraft, des Ausdrucks. Botschaft und Meinung sind verwandt; interessenbasiert verwendbar. Haltung und die unablässige Frage nach dem, was wesentlich ist, schafft unwandelbarere Notwendigkeiten bei gleichzeitiger Offenheit auf der Suche nach dem Wahrhaftigen. Zur Überführung der Lüge braucht es Erfahrung, keine Meinung. Haltung braucht Erkenntnisse, die befähigen, der Beeinflussung zu widerstehen. In Zeiten grassierender Propaganda grassiert auch die Botschaft. Und die Botschaft ist dazu da, Meinungsmehrheiten zu gewinnen, Leute zu beeinflussen, um unlautere und sich bereichernde Ziele zu erzwingen oder nur, um die eigene Blase zu bestätigen, die ja im Grunde ähnliche Ziele verfolgt. Zunächst regiert unmerklicher Betrug, verborgene Gewalt, die dem Machtgewinn oder -erhalt dienen. Das führt zu verfestigtem Dogmatismus, zum Kulturkampf, der keinen Widerspruch, auch keine Diskussion mehr duldet, der den totalen Freiheitentzug der Gedanken aller anstrebt und durchzusetzen bestrebt ist. Eine Kunst, die sich dem Kampf gegen den Faschismus, dem schlimmsten Übel der Moderne und der Menschheit schlechthin (denn der Faschismus hat immer ein Ziel, den Krieg), verschrieben hat, muss also konsequenterweise ohne Botschaft auskommen!
Natürlich: wenn es sich um Botschaftslosigkeit dreht, dreht es sich nicht um Neutralität. Die Verfolgung des Motivs aktueller politischer Ereignisse in der Berichterstattung macht den Handwerker zum Chronisten, aber auch zum Poeten, der über die Bilder der Geschehnisse eine Verdichtung, eine Parabel des menschlichen Daseins erstellen will. Die Poesie entsteht aus dem Prozess der Malerei, nicht aus dem Motiv. Es geht um das Eindringen in das Motiv – um Verdichtung und um Verwandlung.
Ja, die Bilder gleichen sich: Kriege, Seuchen, Proteste, repräsentative Doppelmoral, situative Bündnisfälle, Beschwörung behaupteter Werteordnungen, Massenaufläufe, gegnerische Lagerbildungen, Gesellschaftsschichtungen, hypertrophe faschistische Wucherungen, Verheerungen der Dekadenz, Bühnenpräsenz der Aufgeblasenheiten. Die viel beschworene Vielfalt endet in der Einfalt. Aber auch Körperhaltungen, Charakterstudien, Verletzungen, Verletzlichkeit, Passion. Und Maskenbälle, Larvenstadien, Enttarnungen – Ikonen der Massengesellschaft. Kunst also als Entlarvung der (sichtbaren) Gegebenheiten, die zwar niemals neu, aber immer neu gesehen werden (müssen). Das Alte ist das Neue. Gibt es eine vollständigere Form des Erkenntnisgewinns als durch die ästhetische Verdichtung? Man macht sich die Welt zum Heimatplaneten. Der Unort wird anverwandelt. (Der Mensch ist ein Künstler).
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